Reinecke – CD-Besprechung bei Klassik-Heute.com

Tatjana Ruhland
Die Reinecke-CD war «Klassik Heute Empfehlung» und erhielt die höchsten möglichen Bewertungen.
Vielen Dank!

Die Faszination von sogenannten Lost Places ist ungebrochen. Verlassene Orte zeichnen sich zumeist durch eine gewisse Anziehungskraft aus, gilt es doch Geheimnisse längst vergangener Epochen zu entdecken. Ein bisschen verhält es sich auch mit dieser Aufnahme so, denn das Schaffen von Carl Reinecke ist in vielerlei Hinsicht ein Lost Place, ein vergessener Ort bzw. Komponist. Geboren 1824, musikalisch geprägt zu Hochzeiten Felix Mendelssohn Bartholdys und Robert Schumanns, die ihm auch musikalisch sehr nahe standen, und gestorben 1910, als Arnold Schönberg in expressionistischer Manier die Tonalität auflöste und kurz vor der Etablierung seiner zwölftönigen Kompositionsmethode stand.

Davon bekommt man im Schaffen Reineckes freilich nicht das Geringste mit. Das 1908 entstandene Flötenkonzert D-Dur (op. 283) etwa oder die als op. 288 Reineckes Werkkatalog abschließende Ballade für Flöte und Orchester – beide auf dieser CD zu hören – klingen so, als hätte sich die Musikgeschichte seit Mendelssohn und Schumann nie weiterentwickelt, 1908 wohlgemerkt! Schön und gediegen ist diese Musik natürlich trotzdem, auch wenn ihre Biedermeierlichkeit aus jeder Note trieft und das Flötenkonzert in seiner behäbigen Schwermütigkeit selbst Brahms in den Schatten zu stellen scheint.

Die musikalische Seite dieser Einspielung ficht das unterdessen nicht an. Die Flötistin Tatjana Ruhland spielt mit makelloser Tonschönheit und musikalischem Esprit. Da klingt alles überaus charmant und wie aus einem Guss, angefangen von den großen Spanungsbögen, die sie in vollendeter Weise spannt, bis hin zu den Details der musikalischen Gestaltung, etwa den Tempi. So mag gerade das Flötenkonzert mit seinen moderaten Tempi auf den ersten Blick insgesamt behäbig wirken, nimmt man jedoch die virtuosen Passagen als Maßstab, die Ruhland sowohl mit technischer Akkuratesse als auch nobel-unaufdringlicher Zurückhaltung absolviert, so wirkt alles in jeder Hinsicht stimmig und überzeugend. Das ist nicht zuletzt auch das Verdienst des RSO Stuttgart, das unter der Leitung von Alexander Liebreich, der Solistin nicht nur fabelhaft sekundiert, sondern sich mit seinem überaus gediegenen Spiel als in jeder Hinsicht erstklassiger musikalischer Partner erweist.

Auch auf dieser CD zu hören sind eine hübsche Sonatine für Flöte und Klavier sowie die Undine-Sonate op. 167, die Reinecke als Vertonung der Geschichte des gleichnamigen Fabelwesens konzipiert hat. Diese Sonate ist – mit Verlaub gesagt – ein echter Knaller. Zwar wächst Reinecke auch hier musikalisch wie stilistisch kaum über seine Grenzen hinaus, doch ist das musikalische Gesamtpaket von außerordentlicher Raffinesse und Schlüssigkeit. Die musikalische Dramatik des viersätzigen Werkes, angefangen vom idyllischen Wasser-Thema des ersten Satzes über das lyrisch-geheimnisvolle Andante bis hin zum aufgewühlten Finale mit seinem versöhnlichen Schluss erfährt durch Ruhland und ihren Klavierpartner Eckard Heiligers, der sich auch als Pianist des Trio Jean Paul einen Namen gemacht hat, eine grandiose, packende, ja geradezu hinreißende Wiedergabe. Dieses Stück ist wahrlich ein großer Wurf, als Werk an sich, aber auch in dieser Interpretation. Und es ist ein überzeugendes Plädoyer, den „Lost Place“ Reinecke neu zu entdecken.

Klassik-Heute.com, Guido Krawinkel, 07.08.2017